Zeitlose Leidenschaft

veröffentlicht am
Giovedì
16 novembre 2023

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Timothy Redmond, der musikalische Leiter von La Bohème, erzählt von seiner besonderen Beziehung zu dieser Oper und von den heftigen Emotionen, die sie selbst hundert Jahre nach ihrer Uraufführung noch immer beim Publikum hervorzurufen vermag. Das Geheimnis? Solange sich Menschen leidenschaftlich verlieben (und aufhören, sich zu lieben), wird uns La Bohème berühren, als wäre sie gestern geschrieben worden.

Wann sind Sie Giacomo Puccinis Musik erstmals begegnet?

Das erste Stück, mit dem ich mich eingehend befasst habe, war das Preludio Sinfonico, das Puccini noch zu Studienzeiten schrieb. Wir spielten es in meinem Jugendorchester; dann habe ich La Bohème gesehen (und mich sofort in die Oper verliebt), ich erinnere mich, dass ich noch in der Schule war …

Vor welchen Schwierigkeiten und Herausforderungen steht man, wenn man die Werke dieses Komponisten dirigiert?

Puccini stellt einen sicherlich vor Herausforderungen, gerade was Rhythmus und das Zusammenspiel angeht, aber gleichzeitig nimmt er dich während des gesamten Prozesses an der Hand. Die Partitur ist voller kurzer Anweisungen, dank derer man nachvollziehen kann, was er dachte, während er schrieb. Wir finden Angaben wie „rumore d’uno che ruzzola“ (Lärm von einem, der hinunterpurzelt), „sensibile“ (gefühlvoll), „espressivo” (ausdrucksvoll), „con voce omogenea“ (mit homogener Stimme) … „con molta grazia ed eleganza“ (mit viel Anmut und Eleganz). Und dadurch ist es tatsächlich so, als würde man ein riesiges musikalisches Puzzle lösen!

In La Bohème, die wir in Bozen und in Trient sehen werden, befindet sich das Orchester gemeinsam mit den Sängerinnen und Sängern auf der Bühne, mitten im Geschehen …

Das Orchester sehen zu können, verleiht dem Stück, wie ich finde, einen großen Mehrwert. Ich habe viele Opern wie diese dirigiert: Dem Publikum eröffnet sich eine neue Dimension des Erlebens, wenn es das, was normalerweise nur aus dem Orchestergraben zu hören ist, auch sehen kann. Das Orchester ist das Unterbewusstsein des Dramas, es sagt uns, was wir denken und fühlen sollen … die Mitglieder des Haydn Orchesters auf der Bühne zu sehen, lässt einen vollends verstehen, welch wichtige Rolle sie in der Geschichte spielen.

Was sind Ihrer Meinung nach die Merkmale, die Puccinis Musik, insbesondere seine Opern wie La Bohème, so nah an die Empfindungen der heutigen Zeit heranrücken?

Puccini hat sich von so vielen Komponisten inspirieren lassen! In seiner Musik hallt das Echo von Wagner und Strauss wider, von Bizet und Debussy, vom Cabaret, von Verdi und von Mozart. Er selbst hat unzählige Komponisten inspiriert. Wenn wir Bernstein, Gershwin, Menotti hören, hören wir auch ein bisschen Puccini, wie auch bei vielen Movie Soundtracks aus Hollywood. Seine Klangwelt ist uns also vollkommen vertraut. Deshalb ist Puccini zeitlos und wir können ihn als derart zeitgenössisch hören. Und was La Bohème betrifft? Nun, solange die Studierenden voller Vertrauen und Idealismus bleiben, solange sich die Menschen leidenschaftlich verlieben (und aufhören, sich zu lieben) und wir mit Unerträgliche wie dem viel zu frühen Tod eines geliebten Menschen konfrontiert werden, solange wird uns La Bohème ansprechen, als wäre sie gestern geschrieben worden.

Eine letzte Frage zum Schluss: Verraten Sie unsden Moment, den Sie in dieser Oper am meisten lieben, den Sie wieder und wieder erleben möchten?

Wie auch der letzte Akt von Le nozze di Figaro ist der zweite Akt von La Bohème von lupenreiner Perfektion. Er erreicht eine dramatische Intensität, von der ein Regisseur oder ein Dramaturg nur träumen können. Die von der Menge entfesselte fieberhafte Energie verschmilzt mit szenischen Unterhaltungen unserer Hauptfiguren, so etwas gibt es nur in der Oper, im gesprochenen Theater wäre das niemals möglich. Und so können sich Rodolfo und Mimì in ihrer Traumwelt verlieren, Marcello und Musetta können ihre Liebe hinter dem Funkenregen ihrer Streitigkeiten verstecken und Schaunard und Colline können sämtliche Geschehnisse ironisch kommentieren, alles zur gleichen Zeit. Der Moment, den ich gern wieder und wieder erleben würde? Den Schluss von Quando m’en vo. Alle menschlichen Gefühle – Liebe, Eifersucht, Hoffnung, Verzweiflung, Komik –scheinen auf der Bühne versammelt, aber Puccini hat noch ein paar Asse mehr im Ärmel. Zum bewegenden Höhepunkt der Arie explodiert das Orchester in einem E-Dur-Fortissimo und flutet das Theater mit einer unbändigen Energie, die niemanden kalt lässt. Dann, wie von Zauberhand, geht das Orchester zu einer zärtlicheren Version des Walzers über, zu dem sich Musetta und Marcello umarmen, Schaunard und Colline ihr „Theater“ mit der Rechnungsbezahlung aufführen und sich von fern in den – aus tonaler und dramaturgischer Sicht diametral entgegengesetzten – b-Moll-Klängen die näherkommende Militärkapelle ankündigt. Wir haben wahrlich das Werk eines Meisters vor uns, der auf der Höhe seines Könnens ist!