Interview mit Matthias Lošek

veröffentlicht am
Martedì
7 maggio 2024

MATTHIAS LOŠEK
MATTHIAS LOŠEK (1)
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Herr Lošek, können Sie für uns Bilanz ziehen und ihre Erfahrung als Künstlerischer Leiter für zeitgenössische Oper der Stiftung Haydn zusammenfassen?

Wir haben in diesen letzten Jahren großartige Arbeit geleistet und einige einzigartige Dinge geschaffen. Wir haben einen Ort gestaltet, an dem die Menschen mit Körper und Geist erleben konnten, was Oper heutzutage ausmacht. Für mich ist jede Oper, die mit ihrer Geschichte die Menschen berührt, eine zeitgenössische Oper. Wer an diesen Grundsatz nicht glaubt, verneint die Kunst und lebt sie nur als leere Hülle, als eine reine Form der Unterhaltung. Ich kann es daher nicht oft genug wiederholen: Für mich ist Oper sehen, begreifen. Oper kann aber auch auf unterhaltsame Weise dabei helfen, die Welt besser zu verstehen. Sie kann ein Ort sein, an dem man einen neuen Anzug trägt, oder auch ein altes Paar Jeans. Oper ist nicht der Spiegel einer gesellschaftlichen Elite, ganz im Gegenteil. In den vergangenen neun Jahren haben wir versucht, die Oper für alle zu öffnen.

Gibt es ein Projekt, auf das Sie besonders stolz sind? Und mit welchen Schwierigkeiten hatten Sie zu kämpfen?

Stolz bin ich sicherlich auf das gesamte Euregio-Projekt, aber auch auf den Musiktheaterwettbewerb Fringe, denn dadurch konnten wir bei jungen Künstlerinnen und Künstlern aus der Region Werke in Auftrag geben und deren Talente fördern. Am Anfang fragten sich viele: Warum ausgerechnet hier in Südtirol? Doch wenn man so denkt, ist es der Anfang vom Ende. Werfen Sie nur einen Blick an die Met in New York: Dort stehen 17 neue oder jüngere Opern auf dem Spielplan, darunter sieben Auftragswerke. Und der Erfolg gibt ihnen Recht. Nach der Pandemie dachten viele, dass man das Publikum mit einem einfachen Angebot wieder an das Theater und an die Kunst heranführen müsse, aber meiner Meinung nach ist das nicht der richtige Weg. Manchmal hat es für mich den Anschein, als müsse in unserer Gesellschaft immer alles ganz leicht sein, aber das Leben ist nun mal nicht leicht. Stattdessen sollten wir uns alle fragen: Warum sind wir hier? Wie leben wir? Was macht uns aus? Diese Fragen sind es, auf die ein Museum, ein Theater oder eine Oper Antworten geben kann. Mozarts Oper Le nozze di Figaro zum Beispiel kann uns viel über unsere heutige Zeit erzählen, noch mehr vielleicht als der Prozess gegen Harvey Weinstein. In Bozen sind auf diesem Wege wichtige Themen angestoßen worden, unter anderem beschäftigten sich viele der Opern mit Frauen. Denken wir zum Beispiel an Peter Pan – eine Oper deren wahrer Titel eigentlich Wendy lauten müsste – oder an die Oper La Wally, über eine Frau, die einfach ihr Leben leben möchte, jedoch vom Vater, vom Geliebten und von der Gesellschaft bestimmt wird. Aber selbst Cavalleria rusticana, La traviata oder La bohème könnten hier genannt werden. Die zeitgenössische Oper eröffnet uns neue Perspektiven, sie gibt uns Antworten, oder manchmal vielleicht auch nur einen kleinen Hinweis auf eine mögliche Antwort, aber wie in der Philosophie regt sie stets eine Kettenreaktion von Fragen an.

Was war Ihre größte Herausforderung?

Es war oft schwierig, den Menschen meine Perspektive zu erklären, aber ich bin mittlerweile alt genug, um mir kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen. Ich glaube, dass in unserem Business einige Dinge falsch laufen. Und diese Dinge müssen wir ändern, lieber heute als morgen. Wir dürfen die Oper nicht zum Museum verkommen lassen und immer dieselben Geschichten erzählen. Das ist auch der Grund, warum ich zu mir gesagt habe: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um aufzuhören, bevor du zu einem alten weißen Mann mit zu viel Macht wirst. Das habe ich mir schon vor 25 Jahren vorgenommen, als ich mit 30 die ersten Schritte bei den Bregenzer Festspielen machte.

Wie schwierig ist es, die zeitgenössische Oper an Orte wie Bozen zu bringen?
Manche großen Dinge nehmen auch in Kleinstädten ihren Lauf, daher erkenne ich keinen Unterschied zwischen Bozen, London oder New York. Das einzig Wichtige ist, eine Vision zu haben – Visionen kümmern sich nicht um Geografie. Ohne Vision hat die Arbeit mit der Oper meiner Ansicht nach auch keinerlei Sinn. Es wäre wie im Supermarkt, wo fertig verpackte Dinge verkauft werden. Außerdem ist es keineswegs leichter, in einer Großstadt zu arbeiten. Das habe ich selbst erlebt, als ich in Wien tätig war, einer Stadt, in der sich sehr viel mehr tut und in der es mehr als ein Opernhaus, eine Tanzkompanie oder ein zeitgenössisches Opernensemble gibt. Und das ist daran noch nicht einmal die größte Herausforderung. Wir müssen uns die Frage stellen, warum – egal wo – so viel weniger Tickets für Kulturveranstaltungen verkauft werden. Schließlich haben wir es heute mit neuen Formen des Kulturkonsums zu tun, allen voran mit Streaming-Plattformen wie Netflix. Kunst muss demokratischer werden und darf kein Ghetto für einige kleine Eliten sein.

Folgen die Projekte, die Sie nach Bozen brachten, einem roten Faden?

Ja, natürlich. Unsere Überlegung war die: Wenn wir jedem Programm ein Motto geben wollen, dann muss es etwas sein, das die Fantasie des Publikums anregt. Der erste Titel lautete „The Irony of Life“, womit wir uns eine ganze Welt eröffneten, denn die Oper spiegelt ja das Leben wider, und ein wenig Ironie ist darin essenziell, um überleben zu können. Das lehrt uns die „Opera buffa“, die komische Oper, etwa mit Figuren wie Figaro, ein perfektes Beispiel dessen, was ich meine. Danach folgten weitere Titel und Denkanstöße: „Love and Other Cruelties“ (Liebe und andere Grausamkeiten). Wovon handeln die meisten Opern? Von Liebe, von Tod und von Grausamkeit. „Love and Human remains“ (Liebe und andere Grausamkeiten) lautet auch der Titel eines kanadischen Spielfilms aus den späten 90er-Jahren. Dann hatten wir „Angel or Demon“ (Engel oder Dämon), inspiriert von einem berühmten Buch. Eine Saison stand unter dem Motto „Once upon a Time“ (Es war einmal) und beschäftigte sich mit dem Geschichtenerzählen als eine Art Ritual, mit dem man über Zeit und Raum hinaus experimentieren kann. Mit dem Motto des jüngsten Programms, „Nothing is Written“ (Nichts steht geschrieben), habe ich indessen versucht, zu erklären, dass jede Oper der Anfang von etwas Neuem ist, das sich fortlaufend wiederholt. Dieser Ansatz ist tief in mir verwurzelt und findet sich in allen Dingen wieder, von denen ich überzeugt bin.

Wenn Sie eine Rangliste Ihrer Lieblingsstücke machen müssten, welche wären das?

Ganz besonderes ist mir „La Wally” ans Herz gewachsen. Es war eine großartige Produktion, die Arbeit fiel mir aber aus persönlichen Gründen nicht leicht. Im Februar war meine Mutter gestorben, und dann starb auch noch eine meiner besten Freundinnen, die auch der Regisseurin Nicola Raab sehr nahestand. Es war eine sehr düstere Zeit, für uns beide. Ich bin ein großer Fan von Schauerromanen und von Edgar Allen Poe im Speziellen, daher hat mich The Raven begeistert. Aber auch Falcone, il tempo sospeso del volo gehört zu meinen Lieblingsprojekten: Für dieses Stück habe ich immens viel recherchiert und mich in alle Aufzeichnungen gestürzt, die mit der Mafia und jenem entscheidenden Moment der italienischen Geschichte zu tun hatten. Wenn ich zurückblicke, muss ich sagen, dass wir sehr viele Geschichten erzählt haben, alle sehr verschieden, aber alle auf ihre Weise genial.

Noch eine letzte Frage: Was wünschen Sie dem Team der Stiftung Haydn für die Zukunft?

Zuallererst wünsche ich alle Gesundheit, denn das ist ja das Allerwichtigste. Und dass sie eine Vision haben, die sie nähren. Was wäre das Leben ohne Vision? Es ist von unermesslicher Bedeutung, fest an etwas zu glauben, auch wenn es im ersten Moment nicht umsetzbar erscheint.