Das Interview
Kann das Musiktheater ein so ernstes Thema wie den Mord an Giovanni Falcone verarbeiten?
NICOLA SANI: „Das Attentat von Capaci ist bis heute eine offene Wunde in der Geschichte Italiens. Für mich und den Autor des Librettos, Franco Ripa di Meana, hat die enge Bindung zwischen Kunst und Realität einen sehr großen Stellenwert. Nur wenn wir reale Ereignisse in den Mittelpunkt unseres Schaffens stellen, ergibt unsere Arbeit Sinn, sowohl für uns als auch für die Menschen da draußen.“
STEFANO SIMONE PINTOR: „Ich bin überzeugt, dass das Theater eine unverändert große Kraft ausstrahlt, deren Ursprung ich im Begegnungsmoment zwischen Schauspielern und Publikum einerseits und dem Mehrwert der Abstraktion andererseits sehe. Aus vielerlei Gründen, die auch technischer Natur sind, eignet sich das Theater weniger für die detailgetreue Erzählung einer Lebensgeschichte als etwa das Kino oder die Literatur. Daher muss ein Bühnenautor sich auf andere Stärken konzentrieren und dem Kern eines Stückes oder eines Konfliktes auf den Zahn fühlen. Er muss ergründen, die Essenz herausfiltern und mithilfe seiner Kunst das Unsichtbare sichtbar machen.“
Was sind Ihrer Meinung nach die größten Stärken des Librettos?
NS: „Das Libretto besteht ausschließlich aus echten historischen Textdokumenten aus der Ära
Falcone: Interviews, Bücher, Briefe. Daher glaube ich, dass das Libretto vor allem eine Stärke hat: Es erzählt auf jene sehr klare, direkte Weise, die einen Operntext auszeichnet, die doch recht komplexe Geschichte Falcones.“
SSP: „Dank der streng dokumentarischen Herangehensweise läuft das Libretto niemals Gefahr, in diese romanhafte Verklärung Siziliens und die Klischees der Mafiawelt zu verfallen, die man aus berühmten Filmen zur Genüge kennt. Paradoxerweise kann sich das Publikum gerade deshalb, weil alles authentisch und frei von Fiktivem ist, besonders gut in Falcone hineinversetzen.“
Kommen wir zur Sprache der Musik. Nicola Sani, was sind die Besonderheiten, die Ihre Partitur auszeichnen?
NS: „Es war eine sehr große Herausforderung, diese Oper zu komponieren. Die elektronische Musik nimmt darin viel Raum ein, einerseits in Form von Realtime-Bearbeitungs- und Raumklang-Techniken, andererseits in Form von digitalen Multikanalaufnahmen. Auch der Rhythmus spielt eine wichtige Rolle. Das Musiktheater von Bertolt Brecht und Hanns Eisler ist für mich dabei sicher eine große Inspiration gewesen.“
Stefano Pintor, wenn wir den dramaturgischen Aspekt betrachten, mit welchen Mitteln haben Sie ihre Lesart der Geschichte in Ihrer Regie umgesetzt?
SSP: „Ein wesentliches Element ist das Bild, das wir auf der Bühne erzeugen wollten: ein schwarzes Loch ohne Boden, ein Strudel, ein Krater, einerseits jener reale, der von dem Attentat auf Falcone in die Erde gerissen wurde, andererseits, in symbolischer Hinsicht, die offene Wunde, die sich Mafia nennt und an der ganz Italien immer noch zu leiden hat.“
Was sind die größten Unterschiede zwischen der Erstaufführung der Oper vor etwa 15 Jahren und der aktuellen Neuinszenierung, oder gibt es keine?
NS: „Doch, natürlich, die Inszenierung hat sich maßgeblich verändert, auch verglichen mit der Produktion der Berliner Staatsoper aus dem Jahr 2017. In der Neuinszenierung verortet Stefano Simone Pintor die Oper erstmals in den Räumlichkeiten eines typisch italienischen Theaters. Das soll aber nicht heißen, dass es sich um eine „traditionelle“ Inszenierung handelt.
SSP: „Um einer Logik entgegenzuwirken, die uns vorgaukelt, wir hätte mit der Mafia nichts zu tun, und um keine Trennlinie zwischen dem ‚Wir‘ der Bürger/Zuschauer im Theater und ‚den Anderen‘, also den Schauspielern/Mafiosi, entstehen zu lassen, wird das Publikum in einige Opernmomente miteinbezogen, die Menschen sind Teil der Geschichte. Aber das muss man schon mit eigenen Augen gesehen haben, daher laden wir alle herzlich ein, zur Aufführung zu kommen…“